Warum Armenien zum Krieg in der Ukraine schweigt

Die armenische Regierung hat gegenüber dem bewaffneten Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar eine neutrale Haltung eingenommen.

Die Regierungen Armeniens und Aserbaidschans schwiegen, nachdem Russland am 21. Februar die Unabhängigkeit von Donezk und Luhansk, zwei separatistischen Regionen in der Ostukraine, anerkannt hatte. Auf die Frage, ob die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch die armenische Regierung möglich sei, äußerte der Sprecher des armenischen Außenministeriums, Vahan Hunanjan, es stehe „kein solches Thema auf der Tagesordnung“.

„Wir wollen sicherlich, dass die bestehenden Probleme zwischen unseren beiden befreundeten Staaten durch diplomatischen Dialog, Verhandlungen und in Übereinstimmung mit den Normen und Grundsätzen des Völkerrechts und der UN-Charta gelöst werden. Wir hoffen, dass die notwendigen Schritte unternommen werden, um die Spannungen abzubauen und die Situation friedlich zu lösen“, sagte Hunanjan gegenüber Reportern.

Am 21. Februar führte der russische Präsident Wladimir Putin ein Telefongespräch mit dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan. Die Staats- und Regierungschefs erörterten die „Situation in den russisch-ukrainischen Beziehungen und regionale Sicherheitsfragen“. Putin lud Paschinjan auch ein, im Frühjahr Moskau zu besuchen.

Während die politische Führung der Republik Armenien darauf verzichtete, ihre Unterstützung für die Anerkennung von Donezk und Luhansk durch Russland zum Ausdruck zu bringen, begrüßte der Präsident von Arzach, Arajik Harutjunjan, Putins Ankündigung.

„Die Errichtung eines unabhängigen Staates und seine internationale Anerkennung werden insbesondere angesichts existenzieller Gefahren zu einer Notwendigkeit, da dies das effektivste und zivilisierteste Mittel ist, um Blutvergießen und humanitäre Katastrophen zu verhindern“, sagte Harutjunjan in einem Facebook-Post.

Harutjunjan drückte seine Hoffnung aus, dass auch die Republik Arzach „eine internationale Anerkennung als souveräner Staat verdient“ habe.

Tigran Grigorjan, ein in Jerewan ansässiger armenischer Analyst aus Stepanakert, der Hauptstadt Arzachs, kritisierte Harutjunjans Glückwunschbotschaft.

„Die armenische Diplomatie muss große Anstrengungen unternehmen, um sicherzustellen, dass Arzach niemals mit anderen De-facto-Staaten im postsowjetischen Raum in einen Topf geworfen wird“, schrieb Grigorjan auf Facebook.

Er räumte allerdings auch ein, dass Harutjunjan aufgrund des Drucks von russischer Seite „wahrscheinlich gezwungen ist, von Zeit zu Zeit solche Aussagen zu machen“.

Am 22. Februar trafen sich der russische Präsident und sein aserbaidschanischer Amtskollege Ilham Alijew in Moskau und unterzeichneten eine Erklärung, in der die Beziehung zwischen den beiden Ländern zu einer „alliierten Interaktion“ erhoben wurde.

In der Erklärung heißt es, dass Russland und Aserbaidschan „ihre Beziehungen auf der Grundlage verbündeter Interaktion, gegenseitiger Achtung der Unabhängigkeit, staatlicher Souveränität, territorialer Integrität und Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen beider Länder ausbauen wollen“. Darin heißt es auch, dass die Streitkräfte der beiden Länder ihre Zusammenarbeit vertiefen werden, unter anderem durch „die Durchführung gemeinsamer operativer und Kampfausbildungsaktivitäten“. Die zwei Länder „könnten überdies die Möglichkeit erwägen, sich gegenseitig militärische Hilfe zu leisten“.

Nach der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar verzichtete die armenische Regierung erneut darauf, eine Position in dem Konflikt einzunehmen, bewahrte stattdessen ihre Neutralität und drückte gleichzeitig ihre stillschweigende Loyalität gegenüber Russland aus.

Am 25. Februar stimmte beispielsweise Armenien als einziges Land gemeinsam mit Russland gegen eine Entscheidung des Europarates, Russland aus der Organisation auszuschließen. Die Vertretungsrechte Russlands im Ministerkomitee und in der Parlamentarischen Versammlung wurden dadurch vorübergehend entzogen. Russland wird Vertragspartei der Konventionen des Europarates bleiben, einschließlich der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Darüber hinaus enthielt sich Armenien am 28. Februar bei einer Abstimmung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen über die Abhaltung einer „Dringlichkeitsdebatte“ auf Ersuchen der Ukraine.

Richard Giragosian, Direktor des Regionalstudienzentrums in Jerewan, sagte, die armenische Regierung zeige „strategisches Schweigen“.

„Obwohl Armeniens Position als einziges anderes Land neben Russland, das sich diesem Schritt widersetzt, Armenien gefährlich isoliert, gab es kaum eine Wahl und noch weniger eine Alternative für Armenien“, sagte er gegenüber OC-Media.

Giragosian warnte jedoch davor, dass eine offene Loyalität Armeniens gegenüber Russland „jeden Sinn für diplomatisches Gleichgewicht“ gefährden und zur Folge haben könnte, „Armenien in eine verwundbare und isolierte Position auf der falschen Seite der Geschichte zu drängen“.

Russland hat sich seit Beginn des Krieges an seine traditionellen Verbündeten in der postsowjetischen Sphäre gewandt, um ihre Unterstützung zu sichern. Am 26. Februar telefonierte Putin mit Paschinjan und Alijew. Während eine Pressemitteilung aus Paschinjans Büro den Krieg in der Ukraine gar nicht erwähnt, haben Putin und Alijew laut dessen Präsidialamt „die Situation inmitten der Eskalation der Ereignisse in der Ukraine diskutiert“. Paschinjan und Putin diskutierten ferner „Fragen im Zusammenhang mit den Aktivitäten der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“.

Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der EAWU, eines von Russland geführten Handelsblocks aus fünf ehemaligen Sowjetrepubliken, trafen sich diese Woche in Kasachstan, um Maßnahmen zu erörtern, die den wirtschaftlichen Folgen der gegen Russland verhängten internationalen Sanktionen entgegenwirken können.

„Natürlich ist es offensichtlich, dass Sanktionen einen klaren Einfluss auf das Wirtschaftsklima in der eurasischen Region haben werden, und in dieser Hinsicht müssen wir diskutieren, welche operativen Entscheidungen wir treffen sollten, um diese negativen Folgen zu minimieren und wenn möglich durch geeignete Schritte zu umgehen“, sagte Paschinjan während des Gipfels.

Der Rubel stürzte am Montag gegenüber dem US-Dollar um etwa 30 Prozent ab, nachdem eine Reihe von Sanktionen der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union und anderer westlicher Länder gegen die russische Lebensmittelindustrie und zahlreiche staatseigene Unternehmen verhängt worden waren.

Der frühere armenische Finanzminister Vardan Aramjan stellte indes fest, dass die Abwertung der russischen Währung die Wettbewerbsfähigkeit armenischer Waren auf dem russischen Markt fürderhin beeinträchtigen könnte.

„Der russische Rubel hat sich gegenüber dem armenischen Dram abgeschwächt und wird weiter an Wert verlieren. Dies wird natürlich unsere Exporteure treffen, da sie ihre preisliche Wettbewerbsfähigkeit allenthalben verlieren dürften“, sagte er während eines Interviews mit Sputnik Armenia am 28. Februar.

Aramjan prognostizierte ferner, dass die Sanktionen die Nachfrage nach armenischen Waren unter den russischen Verbrauchern verringern könnte. „Die Menschen werden weniger Geld haben, was zu einem Rückgang der Kaufkraft und der Nachfrage nach Waren führen wird, auch in Bezug auf unsere Waren, die bis anhin auf dem russischen Markt landeten“, konstatierte er.

Russland ist Armeniens wichtigster Handelspartner. Der stellvertretende armenische Wirtschaftsminister Narek Terjan sagte letzte Woche, dass der Handel zwischen Armenien und Russland im Jahre 2021 2,6 Milliarden US-Dollar überstieg.

Aramjan befürchtet weiterhin auch, dass die Sanktionen die Überweisungen aus Russland reduzieren könnten, was sich selbstredend negativ auf die armenische Wirtschaft auswirken würde.

Armenien erhielt im Jahr 2021 Überweisungen in Höhe von 2,1 Milliarden US-Dollar aus der Diaspora, wie die Union of Banks of Armenia am 16. Februar mitteilte. Der größte Teil der Überweisungen, etwa 866 Millionen US-Dollar, stammte aus Russland.

Trotz offiziellem Schweigen haben einige Armenier ihre Unterstützung für die Ukraine gegen den russischen bewaffneten Angriff zum Ausdruck gebracht. Am 27. Februar organisierte die ukrainische Botschaft in Jerewan eine kleine Demonstration mit weniger als 100 Teilnehmern, um ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk auszudrücken.

Die öffentliche Meinung Armeniens zu dem Konflikt wird durch die anhaltende Unterstützung der Ukraine für Aserbaidschan, auch während des Arzach-Krieges 2020, belastet. Viele Armenier sind überdies enttäuscht, dass die damaligen Angriffe des Regimes in Baku auf armenisches Siedlungsgebiet von der Weltgemeinschaft weitgehend ignoriert wurden.  

Freilich verblassen die wenigen Demonstrationen in Armenien im Vergleich zu den Massenprotesten in Georgien und Aserbaidschan. Tausende Menschen haben sich am Dienstag zum sechsten Protesttag in Tbilisi versammelt, um den Rücktritt der georgischen Regierung wegen ihrer unzureichenden Unterstützung der Ukraine zu fordern. Hunderte Menschen nahmen am Sonntag in Baku an einer Demonstration vor der ukrainischen Botschaft teil, um die russische Invasion zu verurteilen.

Tatsächlich ist Armenien das einzige Land im Südkaukasus, über das der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski seit Beginn des Krieges nicht getwittert hat.

„Unglaubliche Georgier, die verstehen, dass Freunde unterstützt werden müssen! Ich danke allen in Tbilisi und anderen Städten, die sich für die Ukraine und gegen den Krieg ausgesprochen haben. Tatsächlich gibt es Zeiten, in denen die Bürger nicht die Regierung sind, sondern besser als die Regierung“, twitterte er am 25. Februar.

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