Die humanitäre Krise in Bergkarabach ist ein Lehrbuchbeispiel für ethnische Säuberungen

Von Dr. Armen Sarkissjan

In den letzten fünf Wochen wurde die zwischen Aserbaidschan und Armenien eingeklemmte Enklave Bergkarabach vom aserbaidschanischen Regime blockiert. Während ein Großteil der Welt Weihnachten und Neujahr feierte, waren über 120.000 armenische Einwohner der Region – der ältesten ununterbrochen bewohnten armenischen Heimat, übersät mit armenischen Kirchen, Klöstern und Denkmälern, die Jahrzehnte vor der Verbreitung des Christentums in Europa entstanden – von der Welt abgeschnitten .

Eine Gruppe aserbaidschanischer Bürger, die sich als „Umweltaktivisten“ ausgeben, verbarrikadierte seit dem 12. Dezember den Latschin-Korridor, eine bergige Straße, die als einzige Verbindung zwischen Armenien und Bergkarabach dient. Die Fortsetzung des normalen Lebens wurde so allmählich unmöglich. Ein Ort, der einst täglich 400 Tonnen Lebensmittel und medizinische Güter erhielt, kann heute selbst an guten Tagen kaum auf ein paar Wagenladungen hoffen. Spitäler haben Operationen auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Kinder hungern. Es herrscht akuter Brennstoffmangel, da die Temperaturen auf unter -4 °C sinken und Familien Abfälle verbrennen, um ihre Häuser zu heizen.

Die Armenier, ein Volk, das im Osmanischen Reich einen Genozid erlitt, bevor es im 20. Jahrhundert als Teil der kommunistischen Sowjetunion totalitärer Herrschaft ausgesetzt war, werden im 21. Jahrhundert kollektiver Bestrafung ausgesetzt, um sie aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Bergkarabach, ein historisches armenisches Gebiet, ist den Armeniern als Artsakh bekannt. Trotz seiner Geschichte und Demografie wurde es 1921 von Josef Stalin an das sowjetische Aserbaidschan übergeben. So wurde eine typische imperiale Methode zur Zerstörung zusammenhängender nationaler und ethnischer Gemeinschaften angewendet, um die Vielfalt der Völker in Schach zu halten. 1988 stimmte die Bevölkerung von Artsakh in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit dafür, Moskaus künstliche Kartographie aufzulösen, sich vom sowjetischen Aserbaidschan abzuspalten und ihre armenische Identität zu behaupten.

Dieser trotzige Akt der Selbstbestimmung führte zu weiteren Massakern an Armeniern, deren Wunsch unerfüllt blieb. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR landete Artsakh innerhalb der von Aserbaidschan geerbten sowjetischen Grenzen. Die Armenier besiegten Aserbaidschan jedoch im ersten Bergkarabach-Krieg, der bis 1994 andauerte, als die Region ihre Autonomie ausrief. Dann, im Jahr 2020, auf dem Höhepunkt der COVID-19-Pandemie, startete Aserbaidschan mit offener Beteiligung und Unterstützung der Türkei eine Überraschungsoffensive – die heute als zweiter Bergkarabach-Krieg bekannt ist.

Aserbaidschan will das Land – freilich ohne die Menschen, die es bewohnen. Seinen Siegen auf dem Schlachtfeld folgte ein rücksichtsloser Versuch, alle Spuren der armenischen Geschichte zu tilgen. Während Armenien eine mittelalterliche Moschee in seiner Hauptstadt zu den wichtigen Sehenswürigkeiten zählt, ausgezeichnete Beziehungen zur islamischen Welt unterhält und Menschen aller Glaubensrichtungen willkommen heißt, hat Aserbaidschan die Schändung und Zerstörung armenischer Kirchen in den eingenommenen Gebieten zur politischen Priorität gemacht. Hunderte armenischer Soldaten befinden sich noch immer in der Gefangenschaft des Alijew-Regimes.

Die humanitäre Katastrophe, die wir jetzt erleben – oder genauer gesagt, die Welt weigert sich, sie wahrzunehmen – ist die lehrbuchmäßige Inszenierung einer ethnischen Säuberung. Mehr als ein Dutzend Nichtregierungsorganisationen, darunter Genocide Watch, haben eine deutliche Warnung herausgegeben, dass die Blockade Bergkarabachs durch Aserbaidschan „dazu bestimmt ist, unter Missachtung der Völkermordkonvention absichtlich Lebensbedingungen zu schaffen, die darauf ausgerichtet sind, ganz oder teilweise das Ende einer nationalen, ethnischen, rassischen Gesellschaft oder religiösen Gruppe herbeizuführen. Alle 14 Risikofaktoren für Gräueltaten, die vom Büro des UN-Generalsekretärs zur Verhütung von Völkermord identifiziert wurden, sind jetzt gegeben.“

Die einzige Lebensader für die Armenier in Artsakh ist jene schmale Straße, die sie mit dem armenischen Kernland verbindet: der Latschin-Korridor.

Freiwillige vor Ort und in den armenischen Diaspora-Gemeinden tun alles, um zu helfen. Als ehemaliger Präsident Armeniens habe ich beschlossen, die für mich gesetzlich festgelegte Rente für humanitäre Zwecke in Artsakh zu spenden. Solche Bemühungen können jedoch nicht isoliert für sich erfolgreich sein. Die Geschichte – die armenische Geschichte allzumal – lehrt uns, dass der Erfolg von Völkermorden immer vom Schweigen der Welt abhängt. Es ist an der Zeit, dass sich die internationale Gemeinschaft endlich zu Wort meldet.

Dieser Beitrag ist die Übersetzung eines Artikels aus dem TIME Magazine.

Dr. Armen Sarkissian (69), ein Wissenschaftler und ehemaliger Diplomat, diente als fünfter Premierminister und vierter Präsident der Republik Armenien. Sein nächstes Buch, „The Small States Club: How Small Smart States Can Save the World“, wird im November 2023 erscheinen.

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