Israel und der Kaukasus – Der Fluch der bösen Tat?

Wieder einmal steht der Nahe Osten am Rande eines Abgrundes aus Gewalt, Krieg und Tod. Seit Tagen beschießt die islamistische Hamas israelische Städte mit Raketen. Die stammen aus dem Iran. Doch dazu später. Israel seinerseits wehrt sich unter anderem mit Luftschlägen gegen Siedlungsgebiete der Palästinenser. Eine Spirale des Grauens hat sich in Gang gesetzt, unter der die Bewohner des Gazastreifens nicht weniger leiden als die Menschen in Tel Aviv oder Beerscheba. Auf Seiten letzterer verhindert wenigstens das israelische Hightech-Verteidigungssystem „Iron Dome“ (dt. Eiserne Kuppel) das Schlimmste.

Die Vorgänge im Land der Bibel spalten die Weltöffentlichkeit wie stets. In Deutschland sympathisieren Links- wie Rechtsextremisten unverhohlen mit der Hamas, nähren das infame Narrativ vom Judenstaat, der im Begriff sei, einen Völkermord an den bedauernswerten Palästinensern zu verüben. Auf der anderen Seite steht das freiheitlich-patriotische Lager solidarisch an der Seite Israels und geißelt die heuchlerische Verlogenheit der Bundesrepublik. Die verfügt zwar allerorten über „Antisemitismusbeauftragte“ und trägt das „Nie wieder!“ wie eine Monstranz vor sich her, versorgt die erklärten Feinde der einzigen Demokratie in Nahost aber mit Milliarden Euro, die freilich nicht in den wirtschaftlichen Aufbau fließen, sondern in Waffen.

Fakt ist, dass der hier neuerlich aufgeflammte Konflikt so komplex wie beinahe unlösbar ist und sich ergo allzu simplen Erklärungs- sowie Lösungsversuchen entzieht. Er ähnelt damit einer anderen Problemzone unserer an solchen nicht eben armen Welt auf nachgerade unheimliche Weise: dem Streit um die Region Bergkarabach im Südkaukasus. Hier spielt Israel – von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkt – eine nicht zu unterschätzende Rolle, allerdings keine gute. Aus diesem Grunde dürften die Armenier wohl eher ratlos und kopfschüttelnd, manche vielleicht sogar schadenfroh in Richtung Levante blicken.

Im Südkaukasus streiten sich seit dem Zerfall der Sowjetunion die christlichen Armenier und das Regime in Baku um eine wilde Gebirgsregion, die von ersteren bewohnt wird aber zum Staatsgebiet Aserbaidschans gehört. Stark vereinfacht erklärt liegen die Ursachen wie in Nahost auch in willkürlichen Grenzziehungen fremder Mächte in den frühen 1920er Jahren – hier der Sowjetführung in Moskau, während in Palästina die britische Mandatsmacht aus dem fernen London die Grundlagen für den heutigen Konflikt zwischen Israelis und Arabern schuf. In beiden Fällen stehen sich das Selbstbestimmungsrecht der Völker einerseits und die territoriale Integrität eines anderen Staates nahezu unversöhnlich gegenüber.

Nun verbindet Armenier und Juden weitaus mehr als die Verwicklung in einen mittlerweile jeweils schon seit Jahrzehnten tobenden Streit mit einem muslimischen Widerpart um Siedlungsgebiete. Sowohl Armenier als auch Juden sind Opfer eines Genozids gewesen, was die Mentalität beider Völker bis heute zutiefst prägt. Der österreichisch-jüdische Schriftsteller Franz Werfel sah am Schicksal der Armenier frühzeitig voraus, was sich in Bezug auf die Juden zu jener Zeit noch niemand wirklich vorstellen konnte: den Holocaust. Mit seinem 1933 vollendeten  Jahrhundertroman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ setzte Werfel nicht nur den mindestens 1,5 Millionen Opfern des türkischen Völkermords an den Armeniern ein monumentales Denkmal, sondern wollte auch vor Hitler und dessen Nationalsozialisten warnen. Entsprechend ist sein Meisterwerk unter Juden seit jeher weit verbreitet, die in den Armeniern zurecht ein Volk von Leidensgenossen erblickten. Hitler selbst hatte entsprechende Parallelen gezogen, als er seine Paladine zu Beginn des 2. Weltkrieges mit Blick auf die eigenen Vernichtungspläne fragte: „Wer erinnert sich denn heute noch an das Schicksal der Armenier?“

Umso enttäuschter ist man in Jerewan über die Waffenbrüderschaft zwischen Israel und Aserbaidschan. Es waren zum großen Teil Raketen und Drohnen aus israelischer Produktion, mit denen Diktator Ilham Alijew armenisches Siedlungsgebiet in Schutt und Asche legte. Mit einem Exportvolumen von 740 Millionen Dollar ist Israel der größte Waffenlieferant des Regimes in Baku. Alijew sagte im Dezember 2016 vor Journalisten, sein Land habe bei israelischen Firmen „Verteidigungsausrüstung“ im Wert von fast 5 Milliarden Dollar bestellt. Der Verkaufsschlager der Israeli sind Drohnen, darunter die Harop des staatlichen Rüstungskonzerns Aerospace Industries. Sie wird auch als Kamikaze-Drohne bezeichnet, da sie im Ziel zur Explosion gebracht werden kann. An einer Militärparade in Baku wurden bereits 2015 israelische Drohnen gezeigt.

Die Liaison Israels mit Aserbaidschan hat im Südkaukasus indes zu einer paradoxen Situation geführt: Tel Aviv unterhält ausgesprochen freundschaftliche Beziehungen zu Aserbaidschan, versorgt dessen totalitäres Regime mit modernsten Waffen, obwohl eben jenes auf das Engste mit der Türkei verbandelt ist, dessen Präsident Erdogan wie auch Alijew selbst der Idee von „einer Nation in zwei Staaten“ anhängt. Für diese pantürkischen Pläne beider Machthaber ist das zwischen ihren Ländern liegende Armenien seit jeher ein Ärgernis. Ankara wiederum fällt seit Jahren mit aggressivster antiisraelischer Rhetorik auf, was Baku wiederum nicht davon abhält, ein Drittel des israelischen Erdölbedarfs zu decken. Israel ist der fünftgrößte Handelspartner Aserbaidschans, seit Jahren gibt es Direktflüge zwischen Tel Aviv und Baku. Israelische Rüstungsbetriebe haben aserbaidschanische Spezialeinheiten und Bodyguards ausgebildet, sie haben den Flughafen von Baku technisch gesichert, modernisieren veraltete sowjetische Panzer.

Alles das bringt die Armenier verständlicherweise in Harnisch und hat sie überdies in die Arme des Iran getrieben, dessen Erzfeind (neben Israel) das benachbarte Aserbaidschan ist. In Teheran wird das Mullah-Regime von der Horrorvorstellung geplagt, die 16 Millionen im Nordiran lebenden Aseri könnten auf die Idee kommen, eine territoriale Vereinigung mit dem Mutterland anzustreben, also ungefähr das, was die Karabach-Armenier seit Jahrzehnten am Westzipfel Aserbaidschans versuchen. So hat die dermaßen vertrackte Gemengelage im Südkaukasus aus der christlichen Demokratie Armenien und der islamischen Theokratie Iran zwei sonderbare Bündnispartner gemacht, die immer mehr aufeinander angewiesen sind.

Aus der Islamischen Republik reist seit Jahren eine wachsende Zahl Touristen ins älteste christliche Land der Welt, das eingeklemmt zwischen der Türkei und Aserbaidschan nur über zwei Straßenverbindungen in die Außenwelt verfügt. Eine davon führt in den Iran. Jener wiederum hat mithilfe Jerewans Wege gefunden, die schmerzhaften Sanktionen des Westens zu umgehen. Folglich nimmt es nicht wunder, wenn Ayatollah Ali Khamenei, der religiöse Führer des Iran, vor zwei Wochen eine Depesche aus Teheran an den armenischen Präsidenten Armen Sarkissian geschickt und darin seinem Wunsch ausgedrückt hat, „die Beziehungen zwischen beiden Ländern auf der Grundlage gemeinsamer Interessen weiter auszubauen und zu stärken“. Ausdrücklich erwähnte er die Sicherheitsinteressen beider Staaten als wechselseitiges Motiv.

Zwei Völker, die beide einen Genozid mit Millionen Opfern erleiden mussten und sich aufgrund dieses gemeinsamen, für andere unfassbaren Erfahrungshintergrundes eigentlich näher sein müssten als alle anderen Nationen dieser Erde. Und doch sind das demokratische Armenien und das demokratische Israel die besten Freunde des totalitären Erzfeindes des jeweils anderen. Israel wird mit iranischen Raketen beschossen, Armenien mit Drohnen aus Israel. Wie kann man so eine paradoxe Situation im besten Interesse aller auflösen? Vielleicht wäre ein erster Schritt, dass Israel den Völkermord an den Armeniern offiziell als solchen anerkennt. Der Ball liegt in Tel Aviv.

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